Andrea Knobloch – "andererseits"
Konzept:
Betritt man den lang gestreckten Lounge-Bereich gleich neben dem Foyer, sieht man sich einer spiegelnd glänzenden Bildfläche gegenüber. Zwischen Lichtreflexionen, dem eigenen Spiegelbild und schemenhafter, in den Bildraum gespiegelter Raumperspektiven zeigt sich vor dem dunklen Grund ein windbewegter, schleierartiger Vorhang. Begibt man sich nun von der Lounge aus in den angrenzenden Besprechungsraum, trifft man ein weiteres Mal auf das gleiche Bild: wiederum spiegelnd glänzend, mit wehendem Vorhang vor unbestimmtem Dunkel. Beide Bildflächen senken sich, wie verirrte Fragmente einer anderen Welt, in leichter Schräglage durch die Decke in den jeweiligen Raum hinab. Ihre nahezu wandfüllende Ausdehnung lässt sie Teil der Architektur werden, die sie widerspiegeln und so eine zweidimensionale, sich mit jedem Positionswechsel des Betrachters verschiebende Projektion des dreidimensionalen Raumes zeigen. Aber ist das eine Bild dem anderen wirklich genau gleich? Der prüfende Schulterblick auf dem Rückweg scheint das zu bestätigen und so verlässt man die Lounge in der Gewissheit, dem einem Bild zweifach begegnet zu sein. Leicht zu übersehen ist die Tatsache, dass es sich um eine spiegelbildliche Verdoppelung handelt. Und es bleibt ein unlösbares Rätsel, welches der beiden Versionen das Original und welches seine gespiegelte Kopie ist.
Das Motiv des halbgeöffneten Vorhangs wurde in Malerei und Grafik vergangener Jahrhunderte verwendet, um das Durchdringen zu höherer Erkenntnis zu veranschaulichen. Ein frühes Beispiel ist Simone Martinis Buchmalerei „Allegoria Virgiliana“ aus dem Jahr 1340. Gezeigt wird der Dichter Vergil mit gezückter Feder im Moment der Inspiration. Ein halbtransparenter Vorhang, der diese durchaus intime Szene ebenso wie die Quelle der Inspiration verdeckt, wird von einem neugierigen Zeitgenossen beiseite gezogen. Auch Rembrandts Radierung eines „praktizierenden Alchimisten“, entstanden um 1652, befasst sich mit dem Empfang geheimer Wahrheiten aus unbekannten Sphären. Durch das raumhohe Fenster im Hintergrund, rechts und links jeweils ein nicht gänzlich zurückgezogener Vorhang, bricht das Licht der Erkenntnis in das verschattete Gehäus ein, begleitet von zwei geisterhaften Wesen, deren eines dem staunenden Gelehrten einen Spiegel vorhält. „Der Vorhang als Markierung der Quelle allen Wissens – der inspirativen Erkenntnis vor ihrer Verschriftlichung – zeigt das Ereignis der Wahrheitsenthüllung an“, stellt die Kunsthistorikerin Nina Niedermeier in ihrem Essay über das Zerreissen des Tempelvorhangs als Sinnbild heroischer Grenzüberschreitung fest.
Welt begegnet dem Menschen stets im Modus des „es (er-)scheint mir“, was immer auch die Möglichkeit der (Selbst-)Täuschung mit sich bringt – ebenso wie des Zweifels darüber, ob die eigene Wahrnehmung den Wirklichkeitserfahrungen anderer nahekommt und man sich zumindest darauf einigen kann, in derselben „Welt“ zu leben. Der Gaukelei der materiellen Erscheinungen ist damit allerdings nicht beizukommen. Das erfuhr Zeuxis im Wettstreit mit seinem Künstlerkollegen Parrhasius, dessen gemalten Vorhang er beiseite schieben wollte, um das Bild dahinter zu betrachten. Seine Trauben hingegen, so getreu er sie auch wiedergegeben hatte, konnten nur die Vögel täuschen. Objektive Wahrnehmung jenseits der eigenen blinden Flecken bleibt für den Menschen, der niemals anders als aus einer subjektiven Perspektive auf die ihm erscheinende Welt blicken kann, ein Ding der Unmöglichkeit.
„andererseits“ ist ein doppeltes Vexierbild in dem sich Wahrnehmung zwischen Wirklichkeit und ihren Spiegelungen verfängt. In die gegebene Architektur eingebettet, kann das Spiel mit Täuschung und Ent-Täuschung in der Bewegung durch beide Räume performativ erfahren werden. Das Bild des wehenden Vorhangs weist dabei auf all das unentdeckte Wissen über die Welt, das auf seine Enthüllung wartet.
Beurteilung durch das Preisgericht:
Bei dem Entwurf handelt es sich um eine selbstbewusste, raumgreifende Arbeit, deren „Dopplungseffekt“ besonders reizvoll ist und an dem Ort eine neue, ungewohnte Perspektive als Scharnier zwischen den beiden Räumen eröffnet. In seiner Wirkung erinnern die Gläser an ein Röntgenbild. Die Arbeit fügt dem Raum weitere Bedeutungsebenen hinzu und bricht mutig gewohnte Raumwahrnehmungen. Der schwarze Hintergrund erzeugt starke Spiegelungen, die intensiv in den Raum hineinwirken. Gerade diese Kombination aus motivischer Leichtigkeit eines Vorhangs und reflektierender Tiefenwirkung setzt einen klugen Kontrapunkt zur Schwere der Schwärze. Das Vorhangmotiv ist nicht nur visuell überzeugend, sondern auch kunsthistorisch bedeutungsvoll.
Die Arbeit zeigt starke gestalterische Qualitäten und ist gut im Raum platziert. Das Vorhangmotiv wirkt jedoch auf Teile der Jury nicht hinreichend überzeugend; die Klarheit ist zwar gegeben und die Botschaft sofort erkennbar, motivisch wäre aber mehr möglich gewesen. Das Glaselement könnte Besuchende an einen Beobachtungsraum erinnern, was inhaltlich in Verbindung mit dem Amt problematisch sein könnte. Die Art der Verbindung der beiden getrennten Räume durch das Kunstwerk ist dagegen aber sehr interessant. Die Positionierung der Arbeit verändert den Raum stark und entfaltet eine spürbare
architektonische Wirkung. Eine alternative Platzierung auf der Stirnwand des Nachbarraums wäre denkbar, falls sich die räumlichen Gegebenheiten im Bauprozess noch ändern würden.

Visualisierung: Andrea Knobloch