Anna Chkolnikova - "Augenblick"
Konzept:
AUGENBLICK
Alle Wände des Kunststandortes der Magistrale sind mit Lehmputz bedeckt.
Aufgrund der Besonderheit des natürlichen Materials sehen die Wände unterschiedlich aus - leichte Farbunterschiede (selbst zwei Säcke Putz aus derselben Grube sind einmalig) und die Bewegungen des Verputzers geben dem Ganzen einen einzigartigen handwerklichen Charakter.
Auf diesen Wänden ist eine sehr diskrete, die gesamte Oberfläche bedeckende Zeichnung mit farblich abgehobenen Flächen zu sehen, die ein nicht periodisches Ornament der Penrose-Parkettierung darstellt. Dieses Ornament ist auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar, aber bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es sich über die gesamte Fläche erstreckt.
Wie ein leichtes Netz.
Als Mathematiker entdeckte Roger Penrose in 1974 zwei Formen: den Kite und den Dart der sogenannten Penrose-Parkettierung. Davor glaubte man, dass es keine Formen gäbe, die eine Fläche aperiodisch bedecken könnten. Kite und Dart jedoch füllen eine unendliche Fläche aperiodisch aus, d.h. das entstehende Ornament wiederholt sich nicht in bestimmten Abständen, sondern verändert sich ständig, verschiebt sich und baut sich wieder auf. Mit dem Verlegen kann an jeder beliebigen Stelle der Wand begonnen werden, ohne dass Berechnungen oder Planungen erforderlich sind. Und egal, wie groß die Fläche ist, über die es sich erstreckt, die Formen decken die Fläche dicht ab, ohne störende Lücken. Ihr Seitenverhältnis ist mathematisch mit dem Goldenen Schnitt verbunden. Das bedeutet, dass ihre Proportionen zusätzlich ein Gefühl von Harmonie im Raum erzeugen.
Auf die Frage, was diese Formen eventuell repräsentieren, antwortete Roger Penrose nicht. Während der Vorbereitung dieser Arbeit wurde mir klar, warum: Sie stellen ein Modell der Welt im Ganzen dar. Ein endloses, verschlungenes, unnachahmliches Ornament. Einzigartig und sich bei jeder Veränderung neu ordnend.
In einem filmisch animierten Modell, würde visuell deutlich, dass sich das gesamte Ornament bei jeder Veränderung eines Details oder seiner Richtung wie ein Echo zu einer neuen, einzigartigen Struktur umwandelt. Die Veränderung eines Schrittes verändert die gesamte Struktur auf einer Makroebene. Augenscheinlich ist das Ornament dasselbe, bei näherer Betrachtung hat es sich verändert.
Die Penrose-Formen in ihrer Wandelbarkeit bei gleichzeitiger Konsistenz sind wie ein Spiegel, der die Überlegungen zur Ökologie und zur Verwobenheit in dieser Welt reflektiert. Die Symmetrie fünfter Ordnung in Penroses Mosaik, die auch der Natur innewohnt, so wie jeder Mensch der Teil einer gemeinsamen Welt ist, erscheint sinnbildlich in der ausufernden Zeichnung über 490 m2.
Wo das Private das Globale beeinflusst, zählt jede Aktion und findet in einem stabilen Gefüge statt. Es sind die verschiedenen, einzigartigen Realitäten in einem großen sinnvollen Zusammenhang, die man erkennen und sich in Ruhe bewusst machen kann, wenn man dieses Ornament betrachtet. Die Wandarbeit zeigt die Möglichkeit, Veränderungen vorzunehmen, die, ob groß oder klein, in einem Augenblick die ganze Welt verändern.
Material / Werkstoffe:
Lehm, der aus bestimmten Erdschichten gewonnen wird, besitzt eine Art Urkraft und verbessert das Mikroklima im Raum. Lehm ist ein Naturbaustoff mit positiver Ökobilanz, der in einfachen Prozessen ohne Zusatzstoffe und unter Aufbringung von wenig Energie gewonnen wird.
Der Lehmputz ist handgefertigt. Er wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der Menschen im Raum aus.
Dem Lehmputz wird ein größerer Anteil Stroh beigemischt, sodass der angenehme Eindruck entsteht, die gesamte Wand sei eine massive Lehmwand. Er ist farblich immer leicht unterschiedlich, macht die Wände weicher und gibt ihnen Tiefe. Er harmoniert mit dem gesamten Gebäude. Auf einer so großen Fläche wird er zum Statement.
Techniken der Ornament-Gestaltung:
Die verwendeten Techniken lassen die minimalistische Zeichnung des Penrose-Ornamentes entstehen. Jede Wand erhält eine individuelle Gestaltung. Die Farben changieren auf subtile, aber deutliche Weise. Die Zeichnung zeigt ein Netz, das variiert und in Schattierungen gestaltet ist. Durch diese Unterschiede bietet sie eine gute, aber unaufdringliche Orientierungshilfe.
Gleichzeitig wird die Abbildung in und auf der Lehmwand zu einem Ausflug durch die Geschichte der Techniken der Wandmalerei. Von den Höhlenzeichnungen über das Sgraffito bis hin zum Fresko. Die Lehmbeschichtung vereint diese Epochen der Kunst und gibt die Vielzahl der Möglichkeiten des malerisch künstlerischen Ausdrucks auf dem Medium der Wand wieder.
Trennlinien (Zeichnung):
Bleistiftzeichnung - Ein Teil der Formen ist mit Bleistift an die Wand gezeichnet - wie eine Episode: ein Bereich unseres Seins ist eine Skizze, eine Darstellung oder eine Vorbereitung für eine zukünftige Handlung, und einige der Linien dieser Skizze sind klar und sicher, sie kennen ihren Platz von Anfang an. Andere sind nur angedeutet, leicht, „möglich“.
Eine auf Putz gekratzte Zeichnung - Die Linien lassen ein leichtes Relief entstehen, dessen Vertiefungen in ein Spiel mit dem Licht kommen.
Felder (Formen):
Einige Felder sind mit Erdpigmenten aus verschiedenen Regionen Deutschlands gefärbt. Die Pigmente in Beige-, Braun- und Umbra-Tönen verraten, wie unterschiedlich und nuancenreich die Farbpalette dieser Erde ist.
Marmorierte Felder, die nach einem möglichen Workshop (siehe unten) von Mitarbeiter*innen des Ministeriums erstellt werden.
Gestaltungsmöglichkeiten und Workshop
Einige Felder aus anderen Materialien - z.B. Vergoldung, Furnier, Keramik - können punktuell bei der Realisierung hinzugefügt werden, wenn der Raum gebaut ist und auf das reale Licht und die Proportionen reagieren lässt. Die diskrete Zeichnung wird durch solche Fragmente noch hervorgehoben.
Um die Mitarbeiter des Ministeriums mit dieser Arbeit zu verbinden und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich an diesem Kunstwerk zu beteiligen, wäre ein Workshop zur Technik des Marmorierens vorstellbar. Die von den Mitarbeitern auf vorgeschnittenen Trägerformen hergestellten Marmorierungen in Form von Penrose-Parkettierungen können in die Wandgestaltung mit einbezogen werden. Die Marmorierung ähnelt der Topographie der Erde aus der Vogelperspektive. Die Teilnehmer gestalten individuelle Kite- und Dart-Formen. Nach diesem Workshop werden die Mitarbeiter des Ministeriums "ihre" Form an der Wand finden, die Idee hinter der durch Penroses mathematischer Arbeit inspirierten Zeichnung besser verstehen und sich durch den Workshop mit dem neuen Gebäude verbinden. Der Workshop ist nicht zwingend erforderlich, sondern als optionales Angebot an die Mitarbeitenden gedacht.
Beurteilung durch das Preisgericht:
Bei der Arbeit „Augenblick“ überzeugt die ganzflächige Bespielung der Magistralenwand mit einem dünnen Lehmputz. Lehm gilt im Architekturdiskurs als zukunftsfähiger Baustoff, während die Bauindustrie einer der größten Umweltsünder ist. Auf Grund des hohen ökologischen Baustandards kommt Lehm auch beim Neubau des BMUKN zum Einsatz. Von der Verfasserin wird Lehm als künstlerisches Medium angeeignet. Dabei kommt zum Tragen, dass er per se unterschiedliche Färbungen hat, die durch Hinzufügen von landestypischen Lehmsorten aus Deutschland noch verstärkt werden sollen, und beim Verputzen eine Eigendynamik entwickelt, die in der scheinbaren Monochromie durch unterschiedliche Lichteinwirkungen eine unvorhersehbare Wirkung und subtile Lebendigkeit entfalten wird. Aus der Fernwirkung mag die Wand an ausgetrocknete rissige Böden, versiegte Flüsseläufe und Seen erinnern. Aus der Nähe wird die Penrose-Parkettierung erkennbar, die die gesamte Fläche wie ein feines Netz überzieht, mal mit Bleistiftzeichnung, mal in Sgraffitto-Technik markiert. Die beiden Penrose-Formen - Kite und Dart - ermöglichen es, aneinandergesetzt eine potentiell unendlich variierbare Fläche zu füllen, ohne dass Planung und Berechnungen vorausgesetzt werden. Diese vielfältigen Assoziationen der Materialität und des Prozesshaften weckte das Interesse der Jury. „Die Penrose-Formen in ihrer Wandelbarkeit bei gleichzeitiger Konsistenz sind wie ein Spiegel, der die Überlegungen zur Ökologie und zur Verworrenheit in dieser Welt reflektiert. Die Symmetrie fünfter Ordnung in Penrose Mosaik, die auch der Natur innewohnt, (…) erscheint sinnbildlich in der (…) Zeichnung über 490qm.“ Die Verfasserin sieht die Möglichkeit eines partizipativen Prozesses (Marmorierworkshop) mit den Mitarbeitenden vor, was von den Nutzervertretenden als positives Angebot begrüßt wurde. Das künstlerische Konzept überzeugt aber selbst ohne dieses Angebot.
Detailansicht des Entwurfs von Anna Chkolnikova "Augenblick"