Annette Kelm (mit Isabell Fein) – "Buchhändlerweg"
Konzept:
Mein Vorschlag für die Kommunikationszone im 7. Obergeschoss nimmt auf das Areal des Neubaus Bezug und ruft dessen in Vergessenheit geratene Geschichte(n) auf. Die Gegend war ein zentraler Ort des publizistischen Schaffens, hier wurden Bücher, Zeitungen und Magazine hergestellt, verlegt und unter die Menschen gebracht. In der Weimarer Republik erlebte dieses Zeitungs- und Verlagsviertel seine Hochzeit. Zahlreiche Einrichtungen des gedruckten Wortes wirkten hier und schufen die Voraussetzungen für die eindrucksvolle Vielfalt an Veröffentlichungen der Weimarer Republik. Die Gegend, die von der Leipziger Straße bis zum Mehringplatz (damals Belle-Alliance-Platz) reichte, war gewissermaßen ein Versorgungszentrum für die liberale, demokratische Öffentlichkeit der Weimarer Republik. Dafür steht auch der damals Buchhändlerhof genannte Weg, der zwischen der Mauerstraße 80 und der Wilhelmstraße 47 verlief und dessen Name auf die Büros der Korporation der Berliner Buchhändler verwies. Er heißt heute Buchhändlerweg und soll bei den Neuplanungen
erhalten bleiben. Der legendäre Neue Deutsche Verlag von Willi Münzenberg befand sich ebenso in diesem Quartier wie die Großbuchbinderei / Einbandwerkstatt Lüderitz und Bauer und die Druckerei Franz Weber. In der Zimmerstraße 94 hatte 1877 Leopold Ullstein durch den Erwerb des dort ansässigen Neuen Berliner Tagblatts und der dazugehörigen Druckerei Stahl Aßmann die Basis für das Verlagshaus Ullstein geschaffen.
Die materielle und intellektuelle Dynamik dieser Gegend ermöglichte es denn auch, dass sich der Horizont über das Nationale hinaus öffnen konnte. Meine Arbeit für das Gebäude greift dieses Moment auf und thematisiert das faszinierende Potenzial des Buches, Tore zur Welt zu öffnen. Meine Fotografien zeigen von den Nationalsozialisten verbotene Bücher, die fast alle schon im Titel Internationalität aufrufen, die geistige Beschäftigung mit der Welt außerhalb der nationalen Grenzen. So zum Beispiel den Europa Almanach von Carl Einstein oder Hotel Amerika von Maria Leitner. Zwei der insgesamt neun zu zeigenden Bücher konnten nur im Exil erscheinen: Stefan Zweigs Brasilien und Transit von Anna Seghers.
Die Bücher erinnern an jene kosmopolitische Geisteshaltung, die von den Nationalsozialisten als Feind markiert wurde. Die insgesamt zehn Bilder sollen im
gleichen Abstand zur Kamera auf die gleiche Weise fotografiert werden, um eine hierarchiefreie Anordnung zu schaffen, in der ich mich als Künstlersubjekt zurücknehme und die Bilder für sich sprechen können. Zugleich sollen sie mit einer unauffälligen Holzleiste gerahmt werden. Ich möchte mit diesen Bildern eine kleine Zone der Inspiration entstehen lassen, die an das erinnert, was diese Gegend einst mit Leben füllte. Die Freiheit von Gedanke und Wort, die Offenheit über Grenzen hinaus: Diese Bücher repräsentieren einen Wert an sich, der wie unsere liberale Demokratie insgesamt jeden Tag aufs Neue gelebt und erkämpft werden muss.
Beurteilung durch das Preisgericht:
Die Arbeiten setzen sich mit Globalität, Reisen und Internationalität auseinander und knüpfen zugleich eine starke Verbindung zum Buchhändlerweg. Sie greifen bewusst die Geschichte des Ortes auf – einschließlich der jüdischen Vergangenheit – und erinnern daran, dass wir durch Neubauprojekte oft unsere historischen Wurzeln aus dem Blick verlieren. In diesem Sinne sind solche Arbeiten mutig und wichtig. Das gezeigte Exemplar eines verbotenen Buches wirkt auf den ersten Blick einfach, doch es steckt große Sorgfalt in Beleuchtung, Recherche sowie in der Verleger- und Gestaltergeschichte. Der historische Ort und der Bezug zum Buchhändlerwesen sind genial gewählt und bieten das Potenzial, sich lange und intensiv damit zu beschäftigen. Die Arbeit ist klar auf Literatur bezogen, ästhetisch hoch überzeugend, zeitlos – und kommt ganz ohne Fingerzeig aus.
Kritisch wird angemerkt, dass der Arbeit in der reinen Positionierung im Raum eine kontextuelle Vermittlungsebene fehlt: Themen wie Migration, Bücherverbrennung oder Diffamierung werden hier zwar ernsthaft verhandelt, doch diese inhaltliche Tiefe kommt ohne weitere Information nicht gänzlich zur Geltung. Technisch ist die Arbeit sehr überzeugend, und es geht klar um das Buch, das eine große inhaltliche Vielfalt aufweist. Trotz der Tragik
jedes einzelnen Buches bleibt es gleichzeitig ein ästhetisches Objekt. Die Arbeit ist hochaktuell, besonders in einer Zeit, in der Bücher international wieder verboten werden.

Visualisierung: Annette Kelm