Benedikt Lübcke - "Probleme mit der Milchkuh"

Konzept: Fahren Sie mit Ihrem Zeigefinger an der Vorderkante des Hornschuhs entlang, bis Sie den Übergang der Klaue zur behaarten Haut identifizieren können. Von diesem Punkt aus kürzen Sie die vordere Klauenwand auf 85 mm. So beschreibt es der Utrechter Professor Touissant Raven als er 1977 die funktionelle Klauenpflege bei Milchkühen begründet und erstmals international einheitlich formiert.

Drei große Aluminiumvitrinen sind an den Wänden des Foyers angebracht. Im Inneren befindet sich ein unregelmäßig angeordnetes Setzkastensystem aus grauem Schaumstoff. Auf den Zentimeter genau sind Papierbögen – an dünnen Nadeln befestigt – in das Setzkastensystem eingelassen. Die Bögen zeigen Konstruktionszeichnungen von Klauenpflegeständen für Kühe – die nach dem einheitlichen Verfahren zur Klauenpflege nach Prof. Raven – im Verlauf der Jahrzehnte entworfen wurden. Ergänzt werden die Abbildungen durch Anleitungen zur Anwendung der Stände und der fachgerechten Ausführung der funktionellen Klauenpflege. Es befinden sich ebenfalls Modelle der gezeichneten Pflegestände im Maßstab 1:15 in den Vitrinen.

Der Entwurf ‚Aktuelle Probleme mit der Milchkuh‘ bringt die Tätigkeitsbereiche der funktionellen Klauenpflege und der Bundesfinanzakademie in Verbindung und schafft ein gemeinsames Drittes. Deutlich wird ihr Zusammenhang im Übereinkommen gleichmäßiger Verteilung und sinnvoller Einheitlichkeit, die der Entwurf humorvoll, kritisch untersucht.

Die Milchkuh verkörpert Wohlstand und Profitabilität. Sie repräsentiert die Idee einer scheinbar unerschöpflichen Quelle und funktionierenden Wirtschaft. Gleichsam ist die Milchkuh selbst ein Produkt des Kapitalismus und bewegt sich in einem gedanklichen Bereich der „Produktionsmaschine“, die aufgrund von wirtschaftlichen Bestreben über Jahrhunderte hinweg zur immer höheren Leistungen gezüchtet wurde.

Der Vorgang der funktionellen Klauenpflege erscheint auf den ersten Blick brachial. Die Kuh wird in eine metallische Vorrichtung gespannt und mit einem Winkelschleifer werden die Klauen gekürzt. Das Schneiden der Klauen trägt dazu bei, dass das Gewicht der Tiere gleichmäßig auf ihre Beine verteilet wird. Der Einfluss der Klauengesundheit der Kuh wirkt sich auf deren Milchproduktion aus und steht somit in unmittelbarer Relation zu ihrer wirtschaftlichen Leistung. (Vgl. Greenough 2007: 36f.) Das Wachstum der Klauen zu überprüfen und auf die Bedürfnisse des Tieres anzupassen, sorgt also nicht nur für die Gesundheit und einen sicheren Stand der Milchkuh, sondern bewiesenermaßen auch für eine finanzielle Stabilität. (Vgl. Fiedler et al. 2019: 59)(Vgl. Whay et al. 2017: 158)

Nach dem deutschen Grundgesetz liegt die Gesetzgebungskompetenz für (fast alle) Steuern beim Bund. Damit diese Steuern einheitlich erhoben werden, müssen sich Bund und Länder auf eine einheitliche Ausbildung der leitendenden Mitarbeitenden der Steuerverwaltungen einigen. Diese wichtige Aufgabe kommt der BFA zu. Sie bildet diese Führungskräfte aus, vermittelt steuerfachliche Kenntnisse, fördert den länderübergreifenden Austausch und sorgt so für finanzielle Gerechtigkeit und eine Stabilisierung der Wirtschaft.

Der Entwurf lässt sich im Dazwischen verorten.

Er zeigt die Ambivalenz des brachialen Prozesses der Klauenpflege auf, der sich dabei im ähnlich mehrdeutigem Verhältnis der Kuh zwischen Wohlstand und Produktionsmaschine widerspiegelt. Durch das Platzieren der Arbeit in der BFA  eröffnet sich die Frage nach dem ebenfalls ambivalenten Verhältnis der Steuerverwaltung zwischen ‚Wegnehmen‘ und ‚Pflegen‘ bzw. Stabilisieren der Wirtschaft.

Diese Fragen richten sich dabei nicht an eine allgemeine Öffentlichkeit, sondern betrifft in erster Linie die Auszubildenen an der BFA – die sich in diesem ambivalenten Verhältnis verorten müssen.

Das Foyer stellt einen Ort dar, den die Auszubildenen tagtäglich durchlaufen. Die Arbeit wird neben den Fahrstühlen und Sitzgruppen platziert. Momente des Wartens auf den Aufzug oder des Platznehmens im Sessel laden dazu ein, sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen. Tag für Tag, Fahrstuhlfahrt für Fahrstuhlfahrt, und damit auch zeitlich parallel zur Ausbildung, fügt sich das Bild und stellt die Auszubildenen vor die Frage, ob sie an diesem Ort nun zur Klauenpflegekraft ausgebildet werden oder vielmehr selbst die Kuh sind, die die Klauen einheitlich geschnitten bekommt.

Der Entwurf befasst sich somit nicht nur mit der Rolle der Akademie als Ausbildungsort und hinterfragt Konzepte und Ziele der einheitlichen Bildung, sondern stößt Gedanken zur Identitätsstiftung der Auszubildenen an.

Die Aufgabe, eine künstlerische Arbeit zu entwickeln, die für Jahrzehnte installiert bleibt, ist eine Herausforderung, die sich nicht nur an die Beständigkeit der ausgewählten Materialien richtet, sondern erfordert, dass die Arbeit über den gesamten Zeitraum hinweg zur Auseinandersetzung anregt. Aus diesem Grund kann die Komplexität – auf den ersten Blick Verschlossenheit – der „Aktuellen Probleme mit der Milchkuh“ eine Qualität darstellen, die den Betrachtenden Anlass gibt, sich über Jahrzehnte mit der Arbeit auseinanderzusetzen und gedankliche Prozesse in Gang zu bringen.


Beurteilung durch das Preisgericht:

Das Thema der Arbeit ist durch die Kontextverschiebung völlig unerwartet und bietet viel Material zur Betrachtung. Die ungewöhnliche Vitrinen laden zur Beschäftigung und zum Verweilen davor ein. Die szenografische Darstellung aus dem musealen Kontext verfremdet auf charmante Weise den Raum. Zum Teil wirkt die Präsentation auch absurd, da manche Exponate so hoch positioniert sind, dass sie nicht lesbar sind. Die handgemachten Modelle werden positiv hervorgehoben.