Henrike ​Naumann - "VEB Aktivistin"

Konzept: In Anbetracht des fortschreitenden Verschwindens des architektonischen Erbes der DDR aus dem Stadtzentrum Berlins (z. B. Abriss des Palasts der Republik) stellt sich die Frage, wie die Geschichte des sozialistischen Deutschlands historisch angemessen baulich repräsentiert werden kann. Aus diesem Grund bezieht sich mein Entwurf für das Foyer des Neubaus des Elisabeth-Selbert-Hauses (ESH) für den Bundestag auf die Nutzung des Ortes
zu DDR-Zeiten. Unter dem Titel VEB Aktivistin nehme ich auf das am selben Ort zwischen 1964 und 1990 ansässige DDR-Außenhandelsunternehmen „Wiratex” (Exportgesellschaft MBH für Wirkwaren und Raumtextilien) Bezug. Das 1964 eröffnete Gebäude wurde Ende 2020 abgerissen.

Der Entwurf nimmt weniger die internationalen Handelsbeziehungen oder staatstragende Repräsentation in den Blick als die Frauen, die zu DDR-Zeiten in sächsischen Fabriken die Textilien für „Wiratex” hergestellt haben. Diese Frauen haben mit ihrer Dreifachbelastung in Form von Vollzeitberufstätigkeit, Mutterschaft und Haushaltsführung kontinuierlich und unermüdlich ihren Beitrag zur Wirtschaft und zum Leben im untergegangenen DDR-Staat geleistet. Als Bürgerinnen der DDR oder auch als Vertragsarbeiterinnen aus Vietnam oder Mosambik, die bei Schwangerschaft vor der Wahl standen, entweder abzutreiben oder in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen. Zudem wurden junge Frauen aus den DDR-Jugendwerkhöfen als Minderjährige dazu genötigt, Zwangsarbeit für die sozialistische Produktion zu leisten. Die ambivalente Geschichte weiblicher Arbeit in der DDR steht im Mittelpunkt von VEB Aktivistin. Der Titel bezieht sich auf den Volkseigenen Betrieb (VEB) „Aktivist” Zwickau. In der DDR wurde bei allen Berufsbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet und Frauen immer nur „mitgemeint”. Mit Aktivistin sind alle weiblichen Beschäftigten aus der ehemaligen DDR nicht nur „mitgemeint”, sondern werden direkt angesprochen.

Im Gegensatz zu den von mitunter heftigen und medienwirksamen Protesten begleiteten Abwicklungen von Betrieben durch die Treuhandanstalt in traditionell männlich codierten Branchen wie der Schwerindustrie wurde die gigantische DDR-Textilindustrie in den 1990er-Jahren leise aufgelöst. Die Geschichten der ehemaligen Textilarbeiterinnen sind in der öffentlichen Erinnerungskultur an die DDR-Zeit marginalisiert und verdienen eine
sichtbare Verstetigung in einem repräsentativen Gebäude des Bundestages. Die Arbeit erinnert deswegen an Textilarbeiterinnen, die in VEBs im heutigen Sachsen für „Watex" produziert haben. Dazu gehörten unter anderem folgende Betriebe: im Bereich Wirkwaren der VEB Strumpfkombinat „Esda" Thalheim und der VEB Strickwaren „Aktivist" Zwickau, im Bereich Möbelstoffe das VEB Kombinat Technische Textilien Karl-Marx-Stadt und der VEB
Möbelstoff- und Plüschwerke Hohenstein-Ernstthal, im Bereich Gardinen das VEB Kombinat Deko Plauen und im Bereich Teppiche der VEB Wurzener Teppichfabrik. Die Lebens- und Arbeitsrealitäten der Frauen sowie ihre Dreifachbelastung zwischen Betrieb, Familie und Haushalt stehen im Zentrum der Installation. Die geplante Arbeit besteht aus standardisierten DDR-Möbelelementen aus den 1960er-Jahren, die mit weiblichen Namen bezeichnet wurden, wie die Schrankwände „Sybille" und „Babette". Aus den Schrankelementen und Vitrinen entsteht ein Rastersystem an der Wand im Foyer, welches nicht nur an die Wohnungen der ehemaligen DDR-Arbeiterinnen, sondern auch die Fassadenstruktur des abgerissenen Wiratex-Gebäudes aus den 1960er-Jahren erinnert.

Zu Beginn des Projektes steht eine umfassende Materialsammlung und Recherche. Im Dialog mit ehemaligen Textilarbeiterinnen und Historikerinnen, die sich mit der Geschichte weiblicher Textilarbeit in der DDR beschäftigt haben, entsteht ein Archiv mit Objekten aus den vergangen Arbeits- und Lebenswelten der VEBs. Diese Textilerzeugnisse, Fotos, Logos, Maschinenteile und persönlichen Erinnerungsstücke füllen die Schrank- und Vitrinenteile der Installation. Damit entsteht erstmalig ein verstetigter Repräsentations- und Erinnerungsort in der vereinigten Bundesrepublik für die DDR-Textilarbeiterinnen,Vertragsarbeiterinnen, Zwangsarbeiterinnen. Mit den Geschichten und Erinnerungen der ehemaligen Arbeiterinnen wird ein Bezug zur Bedeutung des Ortes in der DDR hergestellt, an weibliche Arbeit in der DDR erinnert und auf den Beitrag von Frauen bei der Gestaltung von Gegenwart und
Zukunft der Bundesrepublik hingewiesen.

Die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert (1896–1986), nach der der Neubau benannt ist, gilt als eine der vier „Mütter" des Grundgesetzes (GG). Ihnen ist es zu verdanken, dass der Satz „Frauen und Männer sind gleichberechtigt" 1949 in das GG aufgenommen wurde. Von Elisabeth Selbert stammt das Zitat: „…daß wir zwar heute die Gleichberechtigung für unsere Frauen haben, daß aber diese Gleichberechtigung immer noch eine nur papierene ist.” Obwohl Frauen sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Gleichberechtigung beanspruchen konnten und können, zeigen die Geschichte und Gegenwart beider deutscher
Staaten, dass es bis dahin noch vielen Anstrengungen bedarf: Darauf macht die Installation „VEB Aktivistin” aufmerksam.

"VEB Aktivistin"