Patrizia Bach -"Trotzdem küsse ich deine Nasenspitze ..."

Konzept: Die Arbeit Trotzdem küsse ich deine Nasenspitze – eine künstlerische Arbeit über die unabhängige Frauenbewegung in der DDR im Elisabeth-Selbert-Haus besteht aus zwei Teilen: Einer sich über die gesamte Wand im Foyer erstreckende Wandzeichnung und einer zugehörigen, eigens dafür programmierten und gestalteten Onlinepublikation (Webseite), die die künstlerische Arbeit vermitteln wird, indem sie den Betrachter*innen über eine KI-Bilderkennung die Geschichten hinter der Zeichnung offenbart: Beim Scannen der Wand mit einem mobilen Endgerät erscheinen Archivmaterial und Zitate aus dem Bestand GrauZone des Archivs der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin.

Inhaltlich befasst sich die Arbeit mit der unabhängigen Frauenbewegung in der DDR, deren unterschiedliche Gruppen unter anderen den Weg für die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 bereiteten und die so einen maßgeblichen Grundstein für die Wiedervereinigung Deutschlands legten. In der gesamten DDR formten sich seit Ende der 1970er Jahre unterschiedliche Frauen- und Lesbengruppen, die in ihren oft außergewöhnlichen Aktionen – innerhalb und außerhalb der Kirchen, zu Hause und auf der Straße – unermüdlich gegen staatliche Repressionen vorgingen und laut für Frieden und Freiheit einstanden. Die vielfältigen Inhalte ihrer Forderungen bleiben aktuell, ihre Methoden des Zusammenkommens berühren in ihren sozialen Ansätzen und Ausdrucksweisen, die meist Bezug zum den eigenen Leben hatten. So entstanden zum Beispiel als Reaktion auf das neue Wehrdienstgesetz, das Frauen in die Armee zwingen sollte, die sehr aktive Gruppe Frauen für den Frieden in Ost-Berlin oder als Antwort auf die militärische Schulerziehung ein nichtstaatlicher Kinderladen im Prenzlauer Berg.

Die vorliegende Arbeit ist dem Mut und der Ausdauer aller mitwirkenden Frauen gewidmet, deren großartiges Tun ihr eigenes Leben unumkehrbar veränderte und die nicht selten mit Freiheitsentzug, staatlicher Überwachung und Exil bestraft wurden.

Auch der Titel der Arbeit ist von einer dieser außergewöhnlichen Frauen inspiriert: Es handelt sich um ein Zitat aus einem Brief, den eine Frau ihrer Partnerin aus der Psychiatrie schickt, in die sie wegen ihrer Homosexualität zwangseingewiesen wurde. Unter Schilderungen eines grausamen Alltags und menschenunwürdigen Behandlungen schreibt sie mit scheinbarer Leichtigkeit: Trotzdem küsse ich deine Nasenspitze. Marina K. war später in den Frauengruppen aktiv.

Mit dem Einzug dieser Geschichte in das Elisabeth-Selbert-Haus würde an prominenter Stelle einer der vielen marginalisierten Geschichten gedacht werden, aus welchen wir lernen können und müssen – analog zu der der Namensgeberin des Hauses: denn inspiriert von Elisabeth Selberts Geschichte interessierte es mich, wie sich die Gesetzgebung für Frauen in der DDR wandelte, nachdem sich die deutsche Teilung 1949 abzeichnete. In meiner Recherche stieß ich über
das Archiv der deutschen Frauenbewegung auch auf die Geschichte der unabhängigen Frauenbewegung in der DDR: und zwar in der Sammlung des Bestands GrauZone. 1988 von einer Gruppe engagierter Frauen begonnen, übergaben nach 1989 immer mehr Frauen, die in den Frauengruppen aktiv waren, ihre Materialien dem Archiv.
Die zur Recherche entstandene Wandzeichnung besteht aus 260 einzelnen Zeichnungen, deren Motive von Fotografien und Samisdats1 aus dieser Sammlung inspiriert sind. Bei den Zeichnungen handelt es sich bewusst nicht um Pausen des Materials, sondern um Details, die mich interessieren und berühren: So erzählt eine Pflanze aus einem Berliner Hinterhof von einer heimlichen Sitzung in eben diesem, eine andere von einer Modenschau der Erfurter Künstlerinnengruppe; ein abstraktes Muster einer Kirchenverkleidung berichtet von der Geschichte des Frauenforums und darin von den feministischen und geschlechterbewussten Arbeitskreisen und Theologien in der DDR. Hände erzählen von Zusammenhalt der Frauen für den Frieden, dem gemeinsamen Kämpfen der Gruppe Lesben in der Kirche um die Ehrung homosexueller Opfer des Nationalsozialismus oder aber vom Tanz beim 3. Dresdener Frauenfest 1987, das die Gründung von Frauenhäusern in der DDR anregte.
Die Zeichnungen bleiben auch deswegen bewusst abstrakt und fragmentarisch, um auf die Schwierigkeiten einer Frauenbewegung hinzuweisen, deren Aktionen und Treffen oft heimlich vorbereitet wurden und deren Sprache dabei nicht selten verschlüsselt bleiben musste – u.a. auch wegen eingeschleuster inoffizieller Mitarbeiterinnen der DDR-Staatssicherheit.

Ebenso ist die Entscheidung mit 260 einzelnen Zeichnungen zu arbeiten eine inhaltliche und verweist auf die Arbeit mit Archiven und auf die unzähligen Dokumentenblätter, zu welchen sie entstanden sind. Durch die Verwendung der Polychromos-Stifte entstehen Hand- und Fingerspuren auf und neben den Motiven: eine Erinnerung an die nächtlichen Druckaktionen von Flyern und Samisdats auf den Matrizendruckmaschinen, die die Kirchen den Frauen nicht ohne Risiko bereitstellten und die die Frauen mit eingefärbten Fingern verließen und sich dabei oft selbst auf den Drucken verewigten.

Nicht zuletzt bleibt zu erwähnen, dass es mir bei der Materialfindung besonders wichtig war, mit dem Materialkonzept des Elisabeth-Selbert-Hauses einen visuellen Einklang zu finden: Durch das direkte Auftragen der Zeichnung auf die Wand bleibt der Beton sichtbar und das Schwarz der Stifte ergänzt sich mit dem architektonischen Farbkonzept.

Ein prominent sichtbarer QR-Code verweist auf die Weiterführung des Projekts: Er soll entweder (in Abstimmung mit dem ausführenden Unternehmen) analog zum Blindenleitsystem – und so auch für Sehbehindere erfassbar – direkt vor der Arbeit und innerhalb des ausgewiesenen Bearbeitungsbereichs in den Boden gefräst und – wenn realisierbar – durch die Terrazzotechnik sichtbar gemacht werden. Diese Lösung wäre wünschenswert, da die Webseite im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Barrierefreiheit anstrebt. Falls das nicht möglich ist, gibt es die Alternative, den Code in die Wandzeichnung zu integrieren. Hinter dem Code versteckt sich die zur Arbeit zugehörige Webseite, die anhand von Zitaten, Texten und Archivmaterial die Geschichte der Frauenbewegung in der DDR und somit auch die Zeichnungen vermittelt. Über den Code werden die Betrachter*innen gebeten mit dem Mobilgerät die Wand zu scannen und werden so auf die dahinter liegenden Verbindungen verwiesen: Jeder Zeichnung sind Zitate und Archivmaterialien hinterlegt, welche dann weitere Informationen zu einer speziellen Frauengruppe, einem Ort, Zeitraum oder zu Veranstaltungen und Aktionen bereithalten. Die Online-Publikation entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem Archiv der DDR-Opposition. Rechtliche Vorgaben für Webseiten werden selbstverständlich berücksichtigt.

Zuletzt bleibt noch zu erwähnen, dass sich das Projekt neben der künstlerischen Intention als eines versteht, dass auf Missstände der Marginalisierung verschiedener Randgruppen (und darin auch ihrer Geschichtsschreibung) hinweisen möchte. Auch in der Kunst sind wir noch weit von der Gleichbehandlung entfernt, die durch Elisabet Selbert angestrebt wurde. Im Falle einer Umsetzung werden deswegen nur FLINTA* beauftragt, von der Programmiererin* hin bis zu den Schriftgestalterinnen*

Beurteilung durch das Preisgericht:

Die für das Foyer vorgeschlagene Intervention konstituiert sich über zwei Ebenen: einer aus einer Vielzahl von Motivfragmenten zusammengesetzten, wandfüllenden Handzeichnung sowie einem über einen QR-Code abrufbaren Informationsteil, der die Herkunft der Motive erläutert. Die Arbeit schlägt einen Bogen von einer westdeutschen Visionärin der Nachkriegszeit, nach der das Gebäude benannt wird, zur heterogenen, unabhängigen Frauenbewegung der DDR der 1980er Jahre. Aus fragmentierten Zeichnungen komponiert, die direkt auf die Wand gebracht werden, rekurriert der Entwurf auf historische Aktionen der widerständigen DDR- Frauenbewegung und ihren Artikulationsformen sowie atmosphärischen Momenten.
Die hohe ästhetische Qualität der zeichnerischen Geste (oder der Zeichnungen) weisen eine universell lesbare Eigenständigkeit auf, obschon sie auf spezifische subkulturell konnotierte Ereignisse und Bilder der DDR zurückgehen und daher eine vielschichtige und selten beachtete Facette des Erinnerungsraums „Ostdeutschland“ aufrufen.
Als diskursive und edukativ nutzbare Erweiterung fungiert die über einen QR-Code aufrufbare Website auf Basis von Quellenmaterial aus dem Bestand „GrauZone des Archivs der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin“, die die historischen Dokumente für dieses Kunstwerk verfügbar macht.
In besondere Weise treffen historische Reflexion von selten beachteten Formen gesellschaftlicher deutscher Gegenbewegung und Kritik auf die Ästhetik der globalen Moderne. Besonders interessant erschien dem Preisgericht auch der prozessuale Ansatz des Werkes, in dem die schematischen Zeichnungen nicht fixiert werden, sondern auf die Besucher*innen im wahrsten Sinne des Wortes abfärben können. Es ist aus Sicht der Jury besonders löblich, dass der Deutsche Bundestag mit einem Werk ausgestattet wird, dass sich thematisch mit weiblichen und ostdeutschen Perspektiven auseinandersetzt.

"Trotzdem küsse ich deine Nasenspitze"