Thomas Henninger - "thousand leaves "
Konzept:
„Was wir sehen, ist nicht das, was wir sehen, sondern das, was wir sind.“ – W. G. Sebald
„thousand leaves“ ist eine künstlerische Arbeit, die den Neubau des Bundesumweltministeriums nicht nur als architektonischen Ort, sondern als geistigen Resonanzraum begreift. Die 200 Meter lan- ge Magistrale – eine lichtdurchflutete Raumsequenz – wird zur Bühne einer stillen, bildhaften Über- lagerung von Gegenwart, Erinnerung und Zukunft. Im Zentrum steht die Frage: Wie sieht ein Raum aus, wenn man ihn sich aus der Zukunft her erinnert? Und wie würde die Natur zurückkehren – nicht als Bedrohung, sondern als atmende, stille Präsenz?
Nach Fertigstellung des Neubaus entstehen acht großformatige Fotografien markanter Blickachsen innerhalb der Magistrale – aufgenommen mit einer analogen Großformatkamera, die höchste Präzi- sion und räumliche Tiefe ermöglicht. Diese Fotografien dienen nicht der Dokumentation, sondern der Transformation: Aus jedem Bild wird ein virtueller 3D-Raum konstruiert – eine digital exakte Nachbil- dung der realen Perspektive.
In diesen virtuellen Architekturräumen beginnt etwas zu wachsen: Pflanzen, die sich aus Fugen schieben, über Sockel kriechen, Risse durchbrechen, mit Licht und Schatten spielen. Die Vegetation wirkt mal zart und fragil, mal überwuchernd und beinahe invasiv. Obwohl vollständig digital modelliert, tragen die Pflanzen handgemalte Aquarelltexturen auf ihren Oberflächen. Dieser subtile Bruch er- zeugt Irritation: Die scheinbar fotorealistische Szene kippt in ein gemaltes Traumfragment. Die Natur erscheint real – und doch wie aus einem anderen Zeit- oder Bewusstseinszustand.
Raum als Doppelung
Die entstandenen Bildräume werden erneut fotografisch „belichtet“ – nicht mit einer Kamera, sondern aus dem Inneren der virtuellen Szene heraus. Das Ergebnis sind hochauflösende Bildtableaus, pro- duziert im Diasec-Verfahren im Maßstab 1:1. Diese Arbeiten werden exakt an den Orten installiert, an denen die ursprünglichen Fotografien aufgenommen wurden – eingelassen in die Holzverkleidung der Magistrale. Es entsteht eine irritierende Doppelung: Die Betrachtenden stehen gleichzeitig „im Raum“ – und „vor dem Raum“. Sie sehen, was ist – und was gewesen sein könnte. Oder was noch sein wird. Die reale Architektur wird überlagert von einem möglichen, erinnernden, imaginären Abbild.
Natur als Mit-Akteurin
Die digitale Vegetation steht exemplarisch für natürliche Prozesse der Rückeroberung. Sie ist nicht destruktiv, sondern organisch, beharrlich, poetisch. Sie erinnert daran, dass Architektur keine ab- geschlossene Einheit ist, sondern Teil ökologischer Kreisläufe. Die Arbeit versteht Umwelt nicht als Kulisse, sondern als gleichberechtigte Akteurin.
Inmitten eines Ministeriums, das sich dem Schutz natürlicher Lebensgrundlagen verpflichtet sieht, entsteht ein Werk der Rückkopplung: Die Natur antwortet – nicht mit Lärm, sondern mit stiller, gleich- zeitig raumgreifender Präsenz.
Zeit denken: Zwischen Paradies und Dystopie
Die Bildsprache ist bewusst ambivalent gehalten: Ist dies ein hoffnungsvolles Zukunftsbild, ein Para- dies, das sich die Räume aneignet? Oder eine stille Dystopie, in der das Gebaute von der Natur überwuchert wurde? Zwischen Ordnung und Wildwuchs, zwischen Klarheit und Überlagerung ent- steht ein ästhetischer Schwebezustand. Die reduzierte Farbigkeit verstärkt diese Unschärfe – die Bilder wirken wie Erinnerungen an etwas, das noch nicht geschehen ist.
Die Arbeit knüpft in ihrer poetischen Tiefe an die romantische Vorstellung einer beseelten Natur an – und denkt sie weiter. Sie verbindet digitale Technik mit Empfindsamkeit, wissenschaftliche Präzision mit künstlerischer Intuition. Die Mittel der Simulation dienen hier nicht der Imitation der Wirklichkeit, sondern der Erweiterung unserer Vorstellungskraft. Sie folgt damit dem Gedanken W. G. Sebalds, dass unsere Wahrnehmung nicht Abbild der Welt ist, sondern Spiegel unseres inneren Zustands – das Sichtbare wird zum Resonanzraum des eigenen Seins.
„thousand leaves“ ist kein lautes Werk. Es wirkt langsam – nicht als moralischer Appell, sondern als Einladung zur Selbstverortung. Der Mensch steht nicht im Zentrum, sondern am Rand der Bild- räume – wie ein Gast im eigenen Haus. Die Besucher:innen der Magistrale begegnen ihrem eigenen Gebäude – nicht so, wie es ist, sondern wie es sein könnte. Oder wie es einmal gewesen sein wird. Inmitten dieser Ungewissheit wächst etwas: widerständig und leise.
Erweiterung: „Herbarium der Zukunft“
Ergänzend zu den fotografischen Bildtableaus entsteht ein begleitender Katalog – ein „Herbarium der Zukunft“. In Anlehnung an botanische Bestimmungsbücher des 19. Jahrhunderts werden die im Werk dargestellten Pflanzen stilisiert, kartografiert, benannt und beschrieben. Jede digitale Gewächsform erhält eine systematische Einordnung: ihre hypothetische Herkunft, ihre Wuchsweise, ihre Wechsel- wirkung mit Raum, Licht und Material.
Der Katalog folgt der Ästhetik historischer Pflanzenatlanten – feine Strichzeichnungen, dezente Aquarelle, eine klare typografische Gliederung. Doch anders als in klassischen Herbarien handelt es sich hier nicht um reale Arten, sondern um poetische Rekonstruktionen einer möglichen Vegetation – einer Natur, die in der digitalen Sphäre wurzelt und aus dem Gedächtnis der Architektur hervorgeht. Diese imaginäre Pflanzenkunde versteht sich als zweite Ebene der künstlerischen Arbeit: als Ver- such, das flüchtige Bild der Natur nicht zu fixieren, sondern weiterzudenken – zwischen Wissenschaft und Fiktion, zwischen Archiv und Imagination.
Die Präsentation der gesamten Installation erinnert an das klassische Setting eines Museums. Dazu tragen auch zwei schlichte Holzsitzbänke mit ausliegendem Katalog bei, die an prägnanten Positionen vor den Bildtableaus aufgestellt werden.
Beurteilung durch das Preisgericht:
Die fotografische Installation für die Magistrale des Neubaus des Bundesministeriums verbindet auf eindrucksvolle Weise unterschiedliche Zeitebenen: Gegenwart, erinnerte Vergangenheit und imaginierte Zukunft. Ausgangspunkt sind Fotografien des real gebauten Raums, die zunächst gescannt und anschließend in eine 3D-Visualisierung desselben Raumes überführt werden. In diese virtuelle Umgebung werden digital erzeugte Pflanzen, Bäume, Gräser und Gewächse eingefügt. In einem weiteren Schritt erhalten diese digitalen Naturformen analog aquarellierte Oberfläche, um das Gesamtergebnis anschließend wieder zu digitalisieren. So entsteht ein faszinierendes Vexierspiel aus realem und imaginiertem Raum als visueller Vision einer von der Natur zurückeroberten Welt, möglicherweise in einem posthumanen Erdzeitalter der Zukunft. Die Präsentation der großformatigen acht Fotografien in der Magistrale folgt dem Prinzip einer musealen Inszenierung: An den Wänden ausgestellt, ergänzt durch Sitzgelegenheiten und einem begleitenden Museumskatalog, lädt die Installation zur kontemplativen Auseinandersetzung ein. Die Kunst-am-Bau-Arbeit kann damit Anlass geben für eine vielschichtige Reflexion über das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, zwischen gebauter Umwelt und unberührter Natur – sowie über die Rolle des Menschen im Anthropozän. Die Jury hebt insbesondere die selbstreflexive Dimension der künstlerischen Arbeit hervor sowie die komplexen, aber bereichernden Zugänge, die sich den Mitarbeitenden und Besuchenden des Ministeriums bei der Betrachtung eröffnen. Darüber hinaus überzeugt die fotografische wie auch ortsspezifische Umsetzung inhaltlich und ästhetisch in hohem Maße.
Visualiserung Thomas Henninger- "thousand leaves"