Thorsten Goldberg – "O.T. (Zu gleichen Teilen)"
Konzept:
Staatliche Repräsentation und Grenze:
Die Wilhelmstraße war Sitz wichtiger Regierungsbehörden Preußens, des Deutschen Reiches sowie der DDR und ist in dieser Tradition bis heute bedeutender Teil des politischen Berlins. Bis 1945 galt der rhetorische Ausdruck Wilhelmstraße als Entsprechung für die deutsche Reichsregierung, ähnlich wie Downing Street No. 10 für die britische Regierung steht. Ab 1961 verlief die Berliner Mauer entlang der Zimmerstraße und schnitt die Wilhelmstraße nach Süden ab – durch das Grundstück Postblock Areal Süd hindurch zog sich die Hinterland-Mauer – der gesamte Bereich der Straße wurde zum Grenzgebiet.
Entwurf – Grenzbaum:
Das Ministerielle und die Grenze – beides ist in diese Straße eingeschrieben. Mein Entwurf greift das mit einem Artikel des Bürgerlichen Gesetzbuches auf, der unverändert und im selben Wortlaut seit 1896 besteht und seit 01.01.1900 in Kraft ist. Er beschreibt die Situation eines Baumes, der genau auf einer Grenze steht und seiner Früchte: § 923 BGB (1) Steht auf der Grenze ein Baum, so gebühren die Früchte und, wenn der Baum gefällt wird, auch der Baum den Nachbarn zu gleichen Teilen. Dem Artikel (1) folgen weitere. Gemeint ist hier allerdings nicht die Grenze zweier Staaten, sondern die Grenze zweier benachbarter Grundstücke, denn das BGB regelt bekanntlich Rechtsbeziehungen von Bürgern untereinander. Hier in dem Haus mit ministerieller
Nutzung an der ehemaligen Grenze (bzw. direkt auf dem ehemaligen Todesstreifen) findet eine gedankliche Übertragung – vom Kleinen auf das Große, Ganze – statt: wie gehen Staaten in dieser Situation miteinander um? Gilt das, was im Privaten gilt, auch bei Landesgrenzen?
1. Dieser Artikel (1) des § 923 BGB wird – in seinem Wortlaut verändert – als Konturschrift über eine Raumkante in zwei Zeilen auf die Wand aufgebracht: Steht auf der Grenze ein Baum so gebühren die Früchte und wenn er | Wenn er gefällt wird der Baum auch den Nachbarn zu gleichen Teilen Der Text wird zu einem Vers (katalektisch, daktylischem Hexameter – s.u.*1) und er greift in den Raum hinein.
2. Dem Text wird ein übergroßer Apfel zugeordnet, aus dem bereits ein Viertel hausgeschnitten ist. Der Apfel ist vollplastisch aus Bronze gefertigt, mit sehr ebenmäßig weißer Oberfläche – wie ein mattes Porzellan. Der Gesetzestext als Vers mit seiner gestolperten Wiederholung umklammert den Apfel, während die Halterung des Apfels sich in der Textzeile über die Wand fortsetzt. Der ¾ Apfel ist bereits geteilt oder er ist noch zu teilen. Nicht ist jedoch der Text Untertitel zum Apfel oder umgekehrt – vielmehr scheinen beide etwas miteinander auszuhandeln.
Der Text zum Grenzbaum hat folgende Aspekte:
Indem festgestellt wird, dass eine Sache zwei (oder mehreren) Parteien zu gleichen Teilen gehören, wird an einen Dialog appelliert: "Das Aushandeln unter Gleichen bildet … den Kern dessen, was Demokratie ausmacht. Und es ist das genaue Gegenteil des "Dealmaking" …"*2 Es geht hierin also nicht um Gewinner vs. Verlierer, sondern um Pluralität und Einigung und um Kompromiss. Ein Kompromiss ist die Lösung eines Konfliktes durch gegenseitige freiwillige Übereinkunft. Heute und hierzulande ist der Kompromiss positiv besetzt. Kompromissbereitschaft ist also nicht Schwäche, sondern Ausdruck
gesellschaftlicher Verantwortung. In den USA dagegen versteht man unter diesem Begriff eine Lösung, in der beide Seiten verlieren.
Zur Umformung des Textes:
Der Artikel (1) wird zuerst wörtlich übernommen, nach 17 Silben wird umgebrochen, die zweite Zeile wiederholt die Worte "Wenn er" und stellt den weiteren Satz geringfügig um von: "auch der Baum" zu "der Baum auch". Es wird also nichts Neues hinzugefügt oder weggelassen. Die Wiederholung "wenn er | Wenn er" ist wie ein Stolpern im Satz oder eine Wiederholung, weil die Umgebung zu laut ist oder wie eine mündliche Bekräftigung.
Gemeinsam mit der Umstellung der beiden Wörter entsteht so ein durchgehend gleichmäßiger Sprachfluss von kurzen und langen Silben, wie er schon in der ersten Zeile angelegt ist. Der Text wird zu einem Vers – genauer: zu einem katalektisch, daktylischem Hexameter mit sechs Daktylen, deren letzter verkürzt ist*1.
Der Hexameter ist das klassische Versmaß der epischen Dichtung, deren frühesten Zeugnisse die Ilias und Odyssee des Homer sind, es ist das Versmaß von Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen und wurde ab dem 18. Jhrh. auch in der deutschen Dichtung verwendet (F. G. Klopstock, A. W. Schlegel, J. W. Goethe) Als Vers wird der Text eingängig, man hält ihn länger im Mund, trägt ihn mit sich herum. Er wird dadurch nicht wichtiger oder richtiger – vielleicht sogar im Gegenteil: man hinterfragt ihn, wägt seine Aussage ab.
Beurteilung durch das Preisgericht:
Der Entwurf verwandelt den Gesetzestext geschickt zu einer vielschichtigen, poetischen Metapher und schafft gleichzeitig einen assoziativen Bezug zum ehemaligen Grenzgebiet sowie zur Geschichte des Ortes – ebenso wie zur Nachbarschaft im übertragenen Sinne. Auch bei wechselnder Nutzung bleibt das Werk sehr gut einsetzbar. Die gewählte Höhe und die Position des Apfels an der Ecke auf einem Vierkantstahl werden positiv bewertet. Gefallen
finden auch Materialwahl und Herstellungsweise, die die Natürlichkeit des der Realität entnommenen Objekts unterstreichen.
Die Schrift ist mit Schablone direkt auf die Wand gemalt. Die Jury diskutiert: auf der einen Seite enttäuscht die Umsetzung auf der anderen Seite wird die Direktheit positiv gesehen. Die Arbeit lädt in jedem Fall zu einem Gespräch ein, setzt Fragezeichen und gehört zu den stärksten Beiträgen, da sie etwas auslöst. Die Grenze wird nicht negativ konnotiert, sondern als Möglichkeit sichtbar gemacht, etwas zu teilen. Toleranz dem Anderen gegenüber wird spürbar. Die Kombination aus Text und Apfel ist gelungen, auch wenn der Apfel auf dem Vierkant etwas eigenwillig sitzt. Für das Auswärtige Amt wird das Werk aber nicht durchweg als passendes Kunstwerk wahrgenommen, da Sprache und Gesetzgebung stark deutsch geprägt sind. Inhaltlich greift es globale Themen wie Teilung, Grenzen und deren Auflösung poetisch auf.
Visualisiierung: Thorsten Goldberg