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Natalia Schmidt - "49° 00’02.6’’ S 171°35’32.9’’ W (§)"

Konzept: 49° 00’02.6’’ S 171°35’32.9’’ W (§) ist der Titel des für die Kantine des BGH konzipierten Kunstwerks, welches einen Ort markiert den es tatsächlich gibt, der jedoch weder einen Namen trägt, noch der gängigen Vorstellung eines Ortes mit festem Boden entspricht und der in der Zukunft liegt: 1
Geplant ist ein Glastableau (2 m x 2,50 m x 3,8 cm) mit Tiefenwirkung, welches den Blick auf den reliefartigen Meeresgrund der antipodischen Zone zum BGH eröffnet. 2 In der vorderen Glasschicht befindet sich ein schwebendes, luzides, hologrammartiges, invertiertes Paragraphenzeichen (ca. 37 cm) mittels 3D-Laser-Glasinnengravur.


Die Laserenergie ist potentiell unendlich lang im Glas konserviert. Die Ästhetik des wolkenartigen Zeichens symbolisiert u.a. die Fragilität des Rechtstaatsgedankens. Das Zeichen ist über der Koordinate der Antipode im Bild zentriert. Diese befindet sich in internationalem Gewässer, ist also keinem Land spezifisch zuzuordnen. Das Wasser als global verbindendes Grundelement allen Lebens spielte auch bei der Findung der Antipode eine Rolle: Die Koordinaten wurden vom Galatea Brunnen aus berechnet. Auch taucht es wieder in den Wasserlinien des Innenhofs des BGH Ost auf. Der Ausblick aus der antipodischen Perspektive des BGH nimmt den Blick des Wolkenguckers (1961) auf und führt ihn weiter – bis auf den Meeresgrund des Pazifiks. Die Tatsache, dass sich im heutigen BGH (Erbherzoglichen Palais), während der NS Zeit, der Reichsarbeitsdienst, sowie ein Munitionslager im Keller befand, bewegten mich dazu an die damit verbundenen thematischen Spuren meiner beiden Work-in-progress Projekte „Ammuniton Project: A Composition on Invisible Hands“ (2012-ongoin) 3 und Antipodia (2016) anzuknüpfen. Letzteres setzt sich mit realen, sublimen und gesellschaftlichen Klimata auseinander, welches zunehmend von nationalem und geopolitischem Denken dominiert wird.


Der BGH ist exakt die Institution, die aus der Tragödie dieses Denkens – welches das Recht an den Boden band – hervorging und bildet gerad durch die Möglichkeit der Hinterfragung von Rechtsurteilen Rechtsstaatlichkeit ab: eine Antipode der freiheitlich demokratischen Grundwerte.
Als auf der Wasseroberfläche gespiegeltes Zeichen stellt der Paragraph zwei in einander verschlungene Fragezeichen dar – ein(e) „Interrograph(e)“. Basierend auf meinen Recherchen gestaltet es sich aus Schlangenelementen, die sich mit Satellitenaufnahmen von
Wolken über der antipodischen Zone mischen. Hinter dieser Formfindung stand eine intensive historiographische Recherche zur Genealogie des Paragraphenzeichens. Ausgehend von ägyptischen Gesetzestexten über die Digesten und mittelalterliche Zeichensetzungen (z.B. Codex Iustinianus) und ihre Bedeutung führte ich paläographische Recherchen durch. Eine Theorie zum

Ursprung des Paragraphenzeichens führt zur Hieroglyphe: „goreh“, welche einen Unterarm darstellt (vgl. Plakat Abb.1).
Phonetisch „gerech“: klingt hier bereits der Arm der Justitia an? Desweitern bedeutet es auch „Pause“ – was mich wiederum an den räumlichen Zweck der Kantine denken ließ. Zudem ist auch die ägyptische Vorstellung der Schrift eine architektonische: Der Unterarm, schließt hier einen Text oder einen Raum ab. 4
In Gesetzestexten tauchte immer wieder die Schlange als Interkolumnienzeichen auf, welche an die S-Form erinnert. Die Bedeutung ist allerdings bis heute nicht erforscht. Meine persönliche Assoziation ist rein formal betrachtet, die Ähnlichkeit zur Lemniskate, deren Unendlichkeitssymbolik bereits in den Rechtsvorstellungen Ägyptens als ethische Dimension vorkam.


Der Paragraph (griech.: paragraphos: das Danebengeschriebene) ist in seinem grammatikalischen Geschlecht Femininum, müsste also eigentlich „die Paragraph“ heißen. 5 Seit dem Mittelalter wurde dem Zeichen jedoch das männliche Geschlecht zugeordnet. 6 Mit der Etablierung des mechanistischen Weltbildes zu dieser Zeit wurde das Weibliche insgesamt aus der öffentlichen Sphäre verdrängt, entrechtet – „Danebengeschrieben“.
Die heutigen komplexen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Zukunftsfragen wurzeln in dieser Zeit.
Die Arbeit 49° 00’02.6’’ S 171°35’32.9’’ W (§) möchte dazu einladen einen poetisch-philosophischen Ausblick zu eröffnen, in dem sich durch – und mit Recht – neue Möglichkeits-räume eröffnen lassen, deren Boden fluide bleibt.


1 Dieser liegt etwa 1300 km östlich von Neuseeland in internationalem Gewässer; die Tiefe an dieser Stelle beträgt etwa 5342 Meter.Zeitlicher Vorsprung: 12 Stunden.
2 Die exakte Berechnung der Antipode auf der Südhalbkugel wurde in meinem Auftrag von einem Geophysiker berechnet.
Das Bild umreißt, ausgehend von den antipodischen Koordinaten die antipodische Zone. Es wurde mittels Satellit- und hydroakustischen Aufnahmen erstellt und mir von einem Ozeanografen des Geomar Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung übermittelt.
3 Paragrave (2012; vgl. Plakat 2; Abb. 38) bildete die Grundsteinlegung des Ammunition Projects und spürte den Unrechtslinien seit der Kolonialzeit über den Nationalsozialismus bis heute nach. Gerade in der NS Zeit wurde „Das Gesetz als Waffe“ eins mit dem Einsatz von Waffe und der Produktion von Krieg. Verbunden mit dem Wiedererstarken der internationalen rechten Demokratie- / Rechtsstaatsfeindlichkeit entstand das Work in progress Antipodia (2016).
4 Ähnlich wie die in Paragraphen unterteilte und (Handlungs-)räume definierende juristische Sprache / Rechtssprechung.
5 Vgl. Christian Ahcin: Der Paragraph – ein obskures Subjekt des Rechts. Zur Geschichte eines Zeichens. JZ 1991, S. 915–917.
6 Fußnote 5

Beurteilung durch das Preisgericht:

Die Jury würdigt den durch seine umfangreiche Recherche und Komplexität beeindruckenden Entwurf, der großes Assoziationspotential hat und einen interessanten Denkraum eröffnet. Der Bezug zum Wolkengucker wird ebenfalls positiv gewertet. Das Konzept passt sehr gut zum Standort, kann die Jury in der künstlerischen Transformation aber nicht vollständig überzeugen. Die Jury ist außerdem unsicher, ob der Betrachter die enthaltenen Bezüge zum BGH erfassen kann.