Bundesanstalt für Immobilienaufgaben

Neda Aydin - "Einschluss"

Konzept:

Berlin ist in besonderer Weise von Wunden gezeichnet. Ihr Stadtbild trägt die Schichten des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur, der Teilung und ihrer Wiedervereinigung. Ihre Architektur ist ein Speicher dieser Zäsuren, und insbesondere dort, wo sie repräsentativ gebaut wurde, lassen sich politische Selbstentwürfe und ihre Verschiebungen bis heute ablesen. Exemplarisch hierfür steht der Cranzbau: 1904–05 als ballistisches und chemisches Laboratorium der Militärtechnischen Akademie errichtet, wurde er zum Schauplatz einer Forschung, die nicht die Folgen, sondern die Optimierung des Schusses in den Blick nahm. Seine Nutzungsgeschichte zeigt zudem eine Abfolge institutioneller Überlagerungen: Sie reicht von ihrer Tarnung, über die Eingliederung in die Wehrtechnische Fakultät und die Umnutzung durch die Technische Universität nach 1945 bis hin zum heutigen Sitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. (Vgl. denkmaldatenbank.berlin.de1)

Im Zuge der denkmalgerechten Sanierung des historischen Ensembles stellen sich daher zentrale Fragen der Erinnerungskultur: Wie gehen wir mit Orten um, deren Kernfunktion die Erzeugung und Legitimierung staatlicher Gewaltmittel war und wie gehen wir mit den „Wunden“ um, die daraus hervorgegangen sind? Wunden markieren Stellen, an denen ein Körper — biologisch, sozial oder architektonisch — Schaden genommen hat. Übertragen auf die Geschichte von Staaten und Gesellschaften sind Wunden Brüche, die politische Ordnungen, kulturelle Selbstbilder oder historische Narrative veränderten und damit das
kollektive Gedächtnis prägen.

Die Arbeit „Einschluss“ greift diesen Gedanken auf und verschiebt den Blick von der Optimierung des Schusses auf seine Konsequenz. Ein bündig in die Wand eingelassener Glasblock zeigt in seiner Frontfläche eine amorphe Vertiefung, die die innere Dynamik einer Wundhöhle nachzeichnet. Jenen Hohlraum, den ein Projektil im menschlichen Körper hinterlässt und der in der Wundballistik untersucht wird. (Wundballistik ist die Lehre vom Verhalten der Geschosse beim Eindringen in den Körper eines Menschen oder Tieres. Erforscht wird die Wundballistik mit Hilfe von ballistischer Gelatine oder Glyzerinseife, in der durch plastische Verformung, der temporäre Wundkanal quasi „einfriert“.) Die transluszent mattierte Rückseite erzeugt eine diffuse Leuchtkraft, die den Eingangsbereich subtil durchzieht.

Der Block ist in die ehemalige Türöffnung eingebettet, leicht aus der Mittelachse verschoben. Damit widersetzt sich die Arbeit der streng symmetrischen Choreografie des Raumes und unterläuft bewusst dessen Narrativ und Repräsentationslogik. Als Einschluss in der architektonischen Struktur verweist die Materialität auf die zentrale Geste der Arbeit. Glas macht sichtbar, was sonst im Inneren eines (Bau-)Körpers verborgen liegt und verweist materialikonografisch auf Transparenz und Fragilität. In diesem Spannungsverhältnis spiegelt sich auch der Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Mit der Verwaltung bundeseigener Liegenschaften trägt sie unter anderem Verantwortung für einen transparenten und sensiblen Umgang mit Orten, die von historischen Brüchen geprägt sind.
Angesichts aktueller politischer Entwicklungen, in denen sicherheitspolitische Fragen und militärische Aufrüstung erneut ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten rücken, wird die Sichtbarkeit ihrer Konsequenzen zu einer zentralen Aufgabe verantwortungsvoller Erinnerungskultur.

Beurteilung durch das Preisgericht:

Die Arbeit „Einschluss“ nimmt Bezug auf die ursprüngliche Nutzung des Cranzbaus als ballistisches und chemisches Laboratorium der Militärtechnischen Akademie. Hier wurde die Optimierung des Gewehrschusses in den Blick genommen. Der/die Künstler:in stellt zentrale Fragen der Erinnerungskultur: Wie gehen wir mit der staatlich sanktionierten Kriegsforschung um? Was bedeuten im übertragenen Sinn Wunden für Staaten und Gesellschaften? Was bedeutet das an einem Ort wie Berlin, der lange von den realen Einschüssen in den Gebäuden gekennzeichnet war? Die Arbeit setzt beim konkreten Experiment an: Ein Geschoss wird unter kontrollierten Bedingungen am Schießstand in einen Gelatineblock gejagt. Die daraus entstehende „ballistische Wundhöhle“ wird anschließend in eine Glasplastik übertragen. Entscheidend für die Umsetzung vor Ort ist die Einbettung des Glaskörpers in die zentrale Wand im Foyer. Das Objekt durchdringt die Wand, ist eingeschlossen und dadurch auch im dahinterliegenden Konferenzraum indirekt präsent, auch wenn sie von dort aus nicht in ihrer Gestalt erkennbar ist. Das Kunstwerk sitzt bündig in der Wand. Im Foyer jedoch erblicken die Besuchenden einen ca. 80 cm breiten und 40 cm hohen Glasbaustein, dessen Erscheinung sich durch das Licht des dahinterliegenden Raums  verändert. Die konkrete Darstellung eines Schusses gefriert einen physikalischen Moment von Kraft, Bewegung, Verformung und Druck ein. Die gläserne Stelle in dem frisch renovierten Foyer des Cranzbaus öffnet ein Fenster auf die Historie des Baus und ist zugleich eine offene Wunde in diesem renovierten Bauwerk.Die Arbeit möchte einen transparenten und sensiblen Umgang mit den historischen Brüchen einer Gesellschaft leisten.

Neda Aydin Fasanenstraße

Visualisierung: Neda Aydin