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Julian Charrière - "Not All Who Wander Are Lost"

Konzept:
Findlinge sind natürliche Relikte geologischer Prozesse, geformt über Jahrtausende. Von Gletschern über große Distanzen transportiert, haben sie sich an Orten abgelagert, die weit von ihrer ursprünglichen Herkunft entfernt sind. Sie bewahren Spuren vergangener Epochen und verweisen auf die Kräfte, die die Erdoberfläche unaufhörlich formen.
Das Kunstwerk greift diese Prozesse auf und setzt sie in Beziehung zu menschlichen Eingriffen in natürliche Systeme. Durch präzise Kernbohrungen werden die massiven Steine bis an ihre strukturellen Grenzen ausgehöhlt – eine technische Intervention, die ihre physische Substanz verändert und zugleich eine inhaltliche Verschiebung bewirkt. Die entnommenen Bohrkerne enthüllen verborgene Schichten des Gesteins, wie ein Blick in das tiefste Innere der Erde, ähnlich den Methoden der geologischen und klimatischen Forschung. Dabei offenbart sich die Ambivalenz menschlichen Handelns: Das Streben nach Erkenntnis geht häufig Hand in Hand mit der Veränderung oder gar Zerstörung dessen, was wir zu verstehen und zu beherrschen suchen. Der Findling, einst kompakt und stabil, wird durch die Eingriffe leichter, durchlässiger – eine Metapher für die Erde, die unter dem Einfluss menschlicher Aktivitäten ihre ursprüngliche Form verliert.
Die Anordnung der Steine folgt ihrer einstigen Bewegung durch das Eis und erzeugt eine Spannung zwischen Stillstand und Veränderung. Gleichzeitig verweist die Positionierung der Bohrkerne auf historische Techniken der Steinbewegung: Wie Stäbe, mit denen frühe Zivilisationen tonnenschwere Blöcke bewegten, stehen sie für den menschlichen Einfallsreichtum – und für die Eingriffe, die tiefgreifende Spuren in natürlichen Systemen hinterlassen.
Die Findlinge wurden einst von eiszeitlichen Gletschern bewegt, deren Spuren heute oft nur noch als geologische Relikte erhalten sind. Während ihr einst gewaltiger Einfluss in der Landschaft noch immer unübersehbar ist, sind die Gletscher selbst längst verschwunden – ein mahnendes Symbol für den an-
thropogenen Klimawandel, der selbst die letzten, schmelzenden Reste dieser eisigen Riesen unaufhaltsam dahinraffen lässt. Diese Verbindung verleiht dem Standort des Kunstwerks vor dem Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (EZMW) besondere Bedeutung: Während die meteorologische
Forschung ihren Blick zum Himmel richtet, um die flüchtigen Geheimnisse des Wetters zu entschlüsseln, bleibt der Himmel ein Ort ohne eigenes Langzeitgedächtnis. Seine Geschichte ist in den Gletschern konserviert, deren Schichten atmosphärische Bedingungen über Jahrtausende dokumentieren. So stehen die Findlinge als geologische Chronisten der Vergangenheit in direktem Dialog mit den wissenschaftlichen Methoden der Wettervorhersage – und erinnern zugleich an die Fragilität jener natürlichen Archive, die unter den Ausmaßen der antrhopogenen Erderwärmung unwiederbringlich verloren zu gehen drohen. Vor dem EZMW in Bonn installiert, wird die Skulptur in einen wissenschaftlichen Kontext eingebettet, der sich mit geologischen und atmosphärischen Prozessen auseinandersetzt. Ihre Monumentalität zeigt sich sowohl in der physischen Präsenz der massiven Steine als auch in der technischen Präzision der
Bearbeitung.
Die Produktion erfolgt in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Steinmetzbetrieb, bei dem eine Test-Installation stattfindet. Die Installation in Bonn erfolgt mittels eines LKW-Krans auf vorbereitete Fundamente, die mit aus dem Stein entnommenen Bohrkernen verkleidet werden (siehe Zeichnungen). Klar
definierte Kontaktpunkte und das hohe Eigengewicht der Steine sorgen für Stabilität, sodass keine zusätzliche Verankerung notwendig ist.
Die langfristige Beständigkeit des Kunstwerks ist gewährleistet. Neben einer optionalen Reinigung besteht kein Wartungsbedarf. Der Stein kann auf Wunsch imprägniert werden, wobei eine natürliche Verwitterung im Sinne des künstlerischen Konzepts wäre. Die metallischen Bohrkerne können entweder mit einem
UV-beständigen PU-Lack beschichtet oder bewusst einer kontrollierten Korrosion überlassen werden, sodass sie sich harmonisch in den Alterungsprozess der Skulptur einfügen. Sollte es zu Vandalismus in Form von Graffiti oder Tags kommen, lassen sich die Oberflächen reinigen, ohne dass bleibende Schäden entstehen.
Der Platz vor dem Kopernikus-Raum mit seinen Betonflächen und begrünten Arealen bietet einen funktionalen und gestalterisch passenden Rahmen für das Kunstwerk. Der angrenzende Baumhain und die wassergebundenen Wege gliedern den Raum und schaffen eine Atmosphäre der Ruhe, die das Kunstwerk
einbettet und den Ort zum Verweilen einlädt.
Als geologisches Relikt und zugleich ein durch menschlichen Eingriff transformiertes Objekt wird die Skulptur zur Projektionsfläche für die Reflexion über die komplexen Wechselwirkungen zwischen natürlichen Prozessen und anthropogenen Eingriffen. Sie steht für die Spuren, die Zeit und Bewegung – ob
durch Naturkräfte oder menschliches Handeln – in der Welt hinterlassen, und macht sichtbar, wie fragil das Gleichgewicht zwischen Eingriff und Erhalt letztlich ist.

Beurteilung durch das Preisgericht:
Der Entwurf „not all who wander are lost“ nähert sich dem Tätigkeitsberiech des EZMWs von der erdgeschichtlichen Seite. Die Findlinge, die einst von eiszeitlichen Gletschern bewegt wurden, werden im Baumhain des Geländes platziert. Während die meteorologische Forschung ihren Blick in den Himmel richtet, um die Rätsel des Wetters zu entschlüsseln, verwiesen die Findlinge auf die geologische Vergangenheit, in deren Schichten die atmosphärischen Bedingungen der Erde gespeichert sind. Ihren besonderen Charakter erhalten die Findlinge durch zahlreiche Kernbohrungen, die das kompakte Gestein durchlöchern und damit im Wortsinne durchlässiger, leichter transparenter machen. Aus dem glazialen Gestein wird ein skulpturaler Körper, der
zugleich auf die massiven menschlichen Eingriffe in die Naturkreisläufe verweist. Die dem Findling ohnehin eingeschriebene Bewegungsenergie verdeutlicht die Skulpturengruppe zusätzlich dadurch, dass sie die Felsbrocken auf ein lang gestrecktes Fundament aus den Steinen entnommene steinerne und metallische Bohrkerne setzt. Die durchbohrten (verletzten) Findlinge scheinen damit auf einem Rollband zu liegen, das sowohl auf die historischen Techniken der Steinbewegung verweist, wie es andererseits auch die Fragilität der natürlichen geologischen Archive verdeutlicht, die unter dem Einfluss der anthropogenen Erderwärmung unwiederbringlich drohen, verloren zu gehen. Vonseiten der Jury wurde die formale und inhaltliche Stringenz der Arbeit ausdrücklich gelobt. Der künstlerische Blick ins Innere der Erde offenbart auf eine erfrischend und didaktische Weise die strukturelle Ambivalenz menschlichen Handelns, bei der das Streben nach Erkenntnis und Wissen oft mit der (Zer-)störung seiner Grundlagen einhergeht.

Visualisierun: Julian Carrieré

Visualisierung:  Julian Charrière